Realismus im Rollenspiel – die ewige Debatte
In einem Gastbeitrag greift Jens Jacobsen das Thema Realismus im Rollenspiel auf.
Realismus, die ewige Streitfrage
„Du hast wie viel Geld dabei?“
„208 Gold, 882 Silber und 4.892 Kupferstücke.“
„Und da benutzt du noch einen Streitkolben?!“
„Hä?“
„Och, das ist nur, weil dein Geldbeutel selbst nach vorsichtiger Schätzung so an die 30 Kilo wiegen dürfte.“
„Oh Mann, wer achtet denn auf sowas?!“
Ja, wer eigentlich? Die Frage nach Realismus im Pen & Paper Rollenspiel ist ganz ohne Frage so alt wie dieses Hobby selbst. Sie hat bereits verschiedenste Variationen und Entwicklungen durchgemacht. Bis heute ist sie eines der beliebtesten Themen, wenn es darum geht, die Lager zu spalten und in heftigste Diskussionen zu stürzen. Wie viel Realismus ist möglich, wie viel ist nötig? Was bedeutet Realismus eigentlich in einer Fantasywelt oder einem doch eher auf die damit einhergehende Atmosphäre ausgelegten Science-Fiction-Szenario? Will man dem Realismus nicht eher entkommen, wenn man mit einem Rudel bunter Würfel am Spieltisch einer Rollenspiel-Runde sitzt?
Warum realistisch bleiben?
Da jeder Mensch zur Kategorisierung neigt und die meisten dabei schnell versuchen, Wertungen vorzunehmen, wird das Thema für gewöhnlich sehr unfair behandelt. Mittel dafür ist natürlich, wie sollte es anders sein, den Fall ins Extreme zu treiben.
„Wenn ich Realismus will, gehe ich zum Finanzamt.“
„Also wenn du die Blutung deines Charakters in den Regeln willst, brauchen wir aber auch eine Regel für den Blutdruck.“
Und natürlich der Dauerbrenner:
„Das brauchen wir nicht, bei uns steht der Spielspaß im Vordergrund!“
Gerade die letzte Aussage ist in diesem Kontext natürlich von einem gewissen Unterhaltungspotenzial. Denn irgendwie scheinen diese Leute ja davon auszugehen, dass da Spieler mit einem simplen, „unrealistischen“ Spielsystem saßen, einen riesigen Haufen Spaß hatten und sich dann dachten: „Ach ne, für Spaß machen wir das nicht. Wir brauchen jetzt einen großen Haufen Regeln, die uns jedes Vergnügen daran vollkommen versauen.“
Aber warum zum Teufel mögen manche Leute denn offenbar Realismus selbst in extrem abstrakten und weltfernen Szenarien, wie einer Fantasywelt?
Jedes Rollenspielszenario hat einen Anspruch an Realismus
Realismus im Rollenspiel ist keine Ja-/Nein-Frage. Selbst in den abgedrehtesten Szenarien gibt es Grenzen des Machbaren. Diese können nicht überschritten werden, auch ohne dass man das Regelwerk bemühen müsste. Wenn in einem üblichen Endzeit-Szenario etwa jemand mit seiner Waffe auf den Mond zielt, um ihn so abzuschießen, dass er genau auf die Feinde fällt, dann kann man davon ausgehen, dass man nicht erst ermitteln muss, um wie viel ein entsprechender Wurf erschwert wäre, um zu erkennen, dass er nicht gelingen kann. Auch ein starker Ritter wird, außer es ist eine Superhelden-Welt, einen 50 Meter langen Drachen nicht besiegen können, indem er ihn am Schwanz fasst und nach mehrfachem Herumwirbeln gegen einen Berg schleudert.
Also auch wenn man Szenarien mag, in denen selbst erdrückende Übermachten problemlos ausgeglichen werden können, Rüstungen mehr zur Zierde als aus praktischem Nutzen getragen werden und Bogenschützen einer flüchtenden Mücke in Tarnfarben während eines Hurrikans noch auf 8 km Entfernung mit einem abgebrochenen Pfeil beide Fühler abschießen, an irgendeiner Stelle wird dann doch der Punkt kommen, wo man sich darauf einigt, dass das jetzt dann doch nicht so einfach geht.
Und bei manchen kommt dieser Punkt eben wesentlich schneller als bei anderen.
Realismus? Bei Fantasy? Echt jetzt?
Auch das ist natürlich ein sehr beliebtes Argument. Denn bei Fantasy gibt es ja Geister, Magie, feuerspeiende Drachen und all den anderen Kram, der nach unseren Naturgesetzen ja gar nicht möglich ist.
Die Sache ist nur die: Eine Fantasywelt stellt den Realismus nicht zwangsweise auf den Kopf, sie ergänzt ihn nur. Zum Beispiel um Magie. Ein Faktor, den es in unserer Welt nicht gibt, der aber mitunter vieles möglich macht, was für uns unmöglich ist. Ohne dass sie physikalische und sonstige Gesetzmäßigkeiten dafür generell aushebeln muss. Es gibt beispielsweise kein Argument dafür, dass ein Schwertkampf zwischen zwei Kriegern in einer Welt, in der es Zauberer gibt, irgendwie anders ablaufen muss als in unserer, wenn denn kein Zauberer in diesen Schwertkampf eingreift. Es kann natürlich anders aussehen, wenn die Welt das so vorsieht. Aber dies als quasi unumgänglich zu sehen, weil es durch die theoretisch mögliche Anwesenheit von Zauberern eine Fantasywelt ist, ist Unsinn.
Und warum sollte Realismus Spaß machen?
Realismus ist der kleinste gemeinsame Nenner, der den Spieler mit seinem Charakter verbindet. Ich kann mir zweifellos vorstellen, wie es ist, eine Burgmauer einfach hochspringen zu können, das schon. Aber letzten Endes brauche ich gerade hier das Abstrakte. Also ein Regelwerk, das die entsprechenden Möglichkeiten dahingehend definiert, denn vom wirklichen Erleben kann ich es nicht ableiten. Muss ich die Burg verteidigen und die Feinde springen eine Burgmauer einfach hoch, muss ich noch mehr abstrahieren, damit ich eine effektive Verteidigung organisieren kann und mir zudem nicht ständig die Frage stelle, warum irgendwer Burgen baut, wenn die Feinde die Mauern einfach hochspringen können.
Man kann das vielleicht nicht generell sagen, aber tendenziell würde ich behaupten, ist für eine Spielerin oder einen Spieler mit hohem Anspruch an Realismus die Identifikation und das Einfühlen in eine Spielwelt deutlich wichtiger. Sie möchten nicht einfach „eine Runde Monster metzeln“, sondern möchten so intensiv wie möglich die Erfahrung machen, was es bedeutet, sich in der Nähe eines Monsters zu befinden. Sie möchten bei der Beschreibung einer Ogerkeule nicht einfach nur das Spieltisch-Äquivalent an Würfeln vor Augen haben. Denn sie möchten von der Vorstellung ergriffen werden, was es bedeutet, wenn dieser riesige Brocken harten Holzes auf ihre Knochen trifft. Und wenn das passiert, dann ist die Aussage, man verliere 12 von 45 Lebenspunkten, verhältnismäßig unbefriedigend.
Letztendlich bleibt die Frage offen …
Ich denke, das Thema Realismus im Rollenspiel spaltet die Community deswegen so häufig und zuverlässig, weil sich in der Gewichtung dieses Anspruches ein vollkommen anderes Spielgefühl verbirgt. Was letzten Endes mehr Spaß macht und was weniger, das wird dummerweise weiterhin jeder für sich selbst entscheiden müssen.
Wo steht ihr in dieser Frage? Realismus oder Rollenspiel? Oder beides? Welche Ansprüche habt ihr an eure Spielerlebnisse? Welche Rollenspiele unterstützen euch gut darin? Lasst uns gerne einen Kommentar da!
Ich sehe keine wirkliche Spaltung und auch keinen Konflikt, weil die einen mehr die anderen weniger Realismus haben wollen. Das ist wie mit der Auswahl der Spielertypen, dem Detailgrad der Regeln oder die Wahl des Spielsystems. Die einem mögen das lieber, die anderen jenes (dein erwähntes Spielgefühl). Man einigt sich und findet sich in einer Gruppe zusammen oder sucht weiter.
Die hiesigen Regelwerke der Rollenspiele sind zumindest häufig auf einen mit unserer Welt vergleichbaren Realismusgrad erstellt. Wenn eine Gruppe das abändert (Sprung über Mauer), dann verändert sich das Balancing, aber das ist wie jede Regeleinkürzung oder -erweiterung lösbar oder wird in vielen Punkten häufig auch stillschweigend in der Gruppe gesetzt nach dem Motto wo kein Kläger da kein Richter (Gewicht des Geldes, Unterlassen der Klo und Reinigungsbedürfnisse der Helden, …)
Dummerweise mit Augenzwinkern.
Darüber wurde schon sehr viel geschrieben… z.B. in dieser Serie: https://rpgnosis.wordpress.com/2013/09/25/regeln-im-rollenspiel-teil-1-realismus-missliebig-missverstanden/
Bei den meisten Realismus-Streits geht es nicht um „Realismus“, sondern um Regeldichte.
Ich denke der Streitpunkt ist nicht der Realismus an sich. Die meisten Spieler wollen in den meisten Settings einen gewissen Realismus. Der Streitpunkt ist, ob dieser Realismus in Regeln gefasst werden kann. Das fängt schon mal damit an, dass die benutzte Statistik im Spiel miest linear oder zumindest ohne Richtungsänderung verläuft, was schon mal nicht realistisch ist. Benutzt man ein nicht lineares oder stetiges Modell, wird das ganze aber ohne Computer nicht mehr spielbar. Und selbst dann ist es zweifelhaft, ob das Spiel dann halbwegs realistisch ist. Die meisten Regeldesigner wissen nicht, wie es ist, mit einer Axt oder einer UZI angegriffen zu werden, wie man eine Bank hackt oder ob man als unbewaffneter, aber trainierter Martial Artist eine Chance gegen einen hungrigen Löwen hat. wie sollen sie das also in realistische Regeln packen?
Meine Erfahrung ist, dass Regelwerke, die Realismus hochhalten letztendlich doch daran scheitern, dafür aber einen Wulst an Regeln erzeugt haben. Wer ein einigermaßen realistisches Rollenspiel kennt, bitte gerne als Antwort, ich schau mir das gerne an. Bis dahin behaupte ich, dass das realistischte Spielgefühl durch Handwedeln des SLs zustande kommt.
Es läuft vermutlich darauf hinaus, wie viel Spaß die einzelnen Spieler*Innen an regelgeleiteten „Mini-Taktik-Spielchen“ haben.
Ich persönlich finde z.B. die sehr taktiklastigen Splittermond-Kämpfe mit ihrer Tickleiste sehr lustig – oder das Ausrechnen von Handelsrouten (für einen Spielerhändler) oder Steuereinnahmen (für einen Spieler-Adligen). Diese „Spiele im Spiel“ gewinnen durch den verbindenden Bogen der Spielercharaktere auch stark an Sinnhaftigkeit, gerade im Vergleich zu einzelnen Brettspiel-Runden.
Aber es gibt genügend Leute, die mir dann einen Vogel zeigen und fragen, wie solcher Quatsch den bitte Spaß machen kann …