Pathfinder 2nd Edition – Ersteindruck eines Brockens
642 Seiten. Das ist die Seitenanzahl, die mir meine PDF-Version von den Kernregeln der zweiten Edition des D&D-Klons Pathfinder von Paizo nennt. Das sind fast doppelt so viele Seiten wie in der PDF-Version des Grundregelwerkes für mein Hauptsystem Splittermond. Anders als bei Splittermond war dieses PDF jedoch nicht kostenlos, sondern hat mich ungefähr 15 € gekostet. Die Website von Paizo erwähnt allerdings auch, dass die Regeln und Mechaniken des Spiels frei verfügbar auf der offiziellen Onlineressourcenseite Archives of Nethys zu finden seien. Wer sich also selbst ein Bild von den Regeln machen will, kann dies dort auch tun, ohne Geld auszugeben. In diesem Ersteindruck wird es speziell um das PDF gehen. Daher kann ich die Qualität des Printproduktes nicht kommentieren.
Struktur und Aufbau
Das PDF ist gründlich mit Lesezeichen ausgestattet. Soweit ich das beurteilen kann, ist jeder Zauber und jeden Feat (Talent) markiert worden.
Der Inhalt selbst ist in 11 Kapitel plus Anhang, Charakterbögen und Glossar mit Index aufgeteilt. Wie üblich beginnt das Regelwerk mit einer Einführung in Rollenspiele allgemein. Dazu kommen eine erste Übersicht über die Regeln sowie ein Spielbeispiel. Danach geht es weiter zur Charaktererschaffung. Diese beginnt im 2. Kapitel mit den Ancestries (traditionell: Rassen) und Hintergründen. Im 3. Kapitel geht es schließlich weiter zu den 12 Klassen des Systems.
Danach folgen in den nächsten drei Kapiteln die Erläuterungen der generellen Charakteroptionen. Namentlich Skills (Kapitel 4), Feats (Kapitel 5) und schließlich Ausrüstung (Kapitel 6) und Zauber (Kapitel 7).
Kapitel 8 stellt kurz die Spielwelt Golarion vor. Danach werden in Kapitel 9 die Spielregeln für Spieler und in Kapitel 10 die Regeln für Spielleiter erklärt. Kapitel 11 schließlich beschäftigt sich damit verbunden mit den Regeln für Herstellung und Schätze.
Der übergeordnete Aufbau ist sinnvoll und bewährt. Im Detail ergibt sich jedoch, dass die Anordnung des Inhalts nicht immer leicht zu handeln ist. Dazu aber später mehr.
Das ABC der Charaktererschaffung in Pathfinder
Die Grundlagen
Wie man es von einem D&D-Clon erwartet, ist das Charaktersystem der zweiten Pathfinder-Edition klassenbasiert. Im Zentrum der Charaktererschaffung stehen die 12 Klassen. Dazu kommen die 6 Völker (Zwerge, Elfen, Halblinge, Gnome, Goblins und Menschen) und 35 Hintergründe. Mit einer Optionalregel kann man die sechs bekannten Attribute Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Weisheit und Charisma auswürfeln. Vorgesehen ist jedoch, dass Ability Boosts und Flaws die Werte definieren. Diese sammelt man während der Charaktererschaffung an. Dabei werden die Werte jeweils in zweier Schritten verändert (Boosts +2, Flaws -2). Üblicherweise hat ein Charakter am Ende sein wichtigstes Attribut maximal auf 18 und das niedrigste Attribut mindestens auf 8.
Völker und Klassen
Dazu kommt, dass es bei den Völkern und den Klassen meistens Untertypen gibt, die unterschiedliche Fähigkeiten verleihen. Ein Zwerg mit dem Heritage (Erbe) Ancient-Blooded besitzt eine Art Magieresistenz. Eine Strong-Blooded Zwergin wiederum ist resistent gegen Gift. Bei Barbaren kann man sich am Anfang zwischen 5 Instinkten (Animal, Dragon, Fury, Giant, Spirit) entscheiden. Diese verändern die Rage-Fähigkeit des Charakters.
Manche Optionen legen dem Spieler sogenannte Anathema auf. Eine Barbarin mit dem Animal-Instinkt zum Beispiel darf während ihrer Rage keine Waffen verwenden. Außerdem muss sie dem Tier, das sie nachahmt, Respekt zollen. Kleriker und Paladine sind wiederum an die Anathema ihrer ausgewählten Gottheiten gebunden.
Was bei den Völkern und Klassen hervor sticht, ist das Design der ersten Seite der jeweiligen Einträge. Nach einer groben Übersicht und dem Kontext zu dem Volk oder der Klasse folgen zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt stellt einige Beispiele vor, wie sich die Klasse oder das Volk verhält. Der zweite Abschnitt nennt Beispiele, wie andere Charakter auf ihn reagieren könnten. Der Regelteil wiederum findet sich am Rand der Seite. Bei den Völkern findet man dort die Start-Lebenspunkte, Attributsboni, üblichen Sprachen und besondere Sinne. Bei den Klassen dagegen sind dort die Proficiencies (Kompetenzen) in den verschiedenen Fertigkeiten, Rettungswürfe, Wahrnehmung, Kampffertigkeiten und Rüstungen notiert.
Insgesamt sorgt die Aufmachung der Einträge dafür, dass man schnell einen groben Überblick über die Rollen der verschiedenen Klassen gewinnen kann. Die wahre Komplexität der Charaktererschaffung enthüllt sich jedoch schnell, wenn man bei den Feats angekommen ist.
Feats, Feats, Feats
Es gibt vier Arten von Feats, die den Charakteren besondere Aktionen oder passive Eigenschaften verleihen. Mit diesen können sie die normalen Regeln verändern oder aufheben. Ancestry Feats stellen besondere Eigenschaften des Volkes dar. Mit Class Feats kann man seine Klasse anpassen. Skill Feats erweitern die Fertigkeiten des Charakters. Und General Feats verbessern meist grundlegende Eigenschaften.
Jeder Charakter erhält pro Level in Pathfinder 2e mindestens einen dieser Feats. Häufig sogar 2 oder 3. Dies sorgt zwar dafür, dass der Spieler immer etwas hat, auf das er sich mit dem nächsten Levelaufstieg freuen kann. Es bedeutet auch, dass er, zum Beispiel bei einem Kämpfer, mit bis zu 32 Feats klar kommen muss. Dazu kommen noch seine allgemeinen Klasseneigenschaften: Eine verbesserte Intiative, Rettungswürfe, Waffenspezialisierungen oder die Möglichkeit bis zu zwei zusätzliche Klassenfeats pro Tag vorzubereiten.
Kurz, die Spieler werden mit Optionen gerade zu überhäuft, selbst wenn sie vergleichsweise „simple“ Klassen spielen. Zaubernde Klassen dürfen sich zusätzlich mit einer gigantischen Liste von Zaubern auseinander setzen.
Über die Feats läuft in Pathfinder 2e auch das bekannte Multi-Classing ab. Statt wie bei einer Torte seinen Charakter aus unterschiedlichen Schichten von Klassen zusammenzusetzen, wählt man eine Reihe von Dedication Feats, die Zugriff auf Eigenschaften der anderen Klassen gewähren.
Damit zielt Pathfinder 2e gerade auf Regelfüchse ab, denen D&D 5e nicht genug Optionen oder Komplexität bietet. Gleichzeitig merkt man aber, gerade bei den Multi-Classing-Feats, dass die Entwickler versucht haben sogenanntem Powergaming entgegen zu steuern und die Erschaffung von übermächtigen Charakteren zu verhindern.
Präzise Regeln
Alle Zauber, Feats und sonstigen Optionen der Charaktererschaffung basieren auf einem sehr durchdachten Regelsystem. Pathfinder 2e adaptiert einige Ideen und führt auch selbst Innovationen ein. Zwei Beispiele möchte ich hier nennen: Die Initiative und das System zu heimlichen Aktionen und deren Wahrnehmung
Initiative würfelt man in Pathfinder 2e nicht mit einem eigenständigen Wert, der auf Geschicklichkeit basiert, wie es in D&D gehandhabt wird. Stattdessen würfelt man auf eine relevante Fertigkeit. Normalerweise ist dies die Wahrnehmung, in der alle Charaktere auf jeden Fall trainiert sind. Im Falle eines Überraschungsangriffs kann stattdessen jedoch auch Heimlichkeit genutzt werden!
Beim Einsatz von Heimlichkeit kommen auch die vier Wahrnehmungszustände zum Einsatz. Man ist in Pathfinder entweder undetected (unentdeckt), hidden (versteckt), concealed (verdeckt) oder observed (beobachtet). Solange man undetected ist, wissen andere Personen vielleicht, dass man in der näheren Umgebung ist, nicht aber wo. Im Falle von hidden hingegen wird man zwar auch noch nicht gesehen, aber der grobe Standpunkt wurde ausfindig gemacht. Erst ab concealed hat man schwachen Sichtkontakt. Zusammengenommen erlaubt dieses System spannende Versteckspiele, bei denen die Stadtwache den Dieb nicht gleich beim ersten misslungenen Wurf entdeckt.
10 – die magische Zahl von Pathfinder
Ein Grundsatz der Regeln ist, dass bis auf die Initiative vergleichende Proben weitestgehend vermieden werden. Die Spieler würfeln also fast immer gegen einen festen Wert. Neben dem bekannten Angriffswurf gegen die Armor Class (AC) kann man daher nun auch gegen die Difficulty Class (DC) von Fertigkeiten würfeln. Wer zum Beispiel jemanden belügen will, muss mit seinem Wert in Täuschen gegen die DC der Wahrnehmung seines Gegenüber würfeln. Diese wiederum ergibt sich aus dem Fertigkeitswert +10.
10 ist auch die Zahl, die die unterschiedlichen Erfolgsstufen in Pathfinder 2e voneinander trennt. Anders als im vorherigen Teil erzielt man einen kritischen Erfolg nicht allein mit einer 20 oder einen kritischen Fehlschlag mit einer gewürfelten 1. Stattdessen muss man entweder 10 Punkte über oder unter die DC würfeln. Erst dann passieren die wirklich guten oder schlimmen Dinge. Und da der Level eines Charakters auf seine trainierten Fertigkeiten gerechnet wird, ist ein Levelunterschied von großer Bedeutung.
Gewürfelt wird dabei häufig verdeckt. Nicht der Spieler, sondern der Spielleiter würfelt im geheimen und nennt dabei nicht das Ergebnis. Der Spieler kann dadurch aus dem Wurf selbst keine relevanten Information ziehen. Allerdings überlässt man es der Gruppe und dem Spielleiter, wie streng sie dieser Regel folgen wollen.
Generell betonen die Regeln immer wieder, vor allem zu Beginn des Regelwerks, dass sie letztendlich immer von der Gruppe angepasst werden können.
Wenig Fluff
Pathfinder besitzt seine eigene Spielwelt, die fantastische Welt von Golarion. Viele Regeln und Ideen im Core Rulebook sind aber eher unspezifisch gehalten und könnten auch für andere Fantasy-Welten genommen werden. Kapitel 8 beschreibt Golarion auf weniger als 25 Seiten. Bis auf die Götter, ihre Anathema und Domänen finden sich nur wenige Informationen, die mit den Regeln der Charaktererschaffung stark verzahnt sind.
Hierzu möchte ich erwähnen, dass spätere Publikationen zu Pathfinder 2e wie The Lost Omens World Guide, für das Setting relevante Archetypen und Gegenstände eingeführt haben. Bei diesen Archetypen handelt es sich um eine Reihe von Class Feats. Diese können ab einem bestimmten Level zu der Grundklasse hinzu gewählt werden.
Diese Art von Mischung aus harten Regeln und weichen Weltbeschreibungen ist auch bei deutschen Produkten wie DSA oder Splittermond nicht unüblich. Inwiefern es dadurch aber zu Destabilisierung des ansonsten recht robusten Regelwerks kommt, wird sich noch zeigen.
Probleme des Pathfinder Core Rulebook
Die Regeln werden aber etwas verwirrend, wenn zusammengehörige Teile über das ganze Buch verteilt sind. Beispielsweise erklärt Kapitel 4: Skills auf S. 236, wie die Charaktere in der Pause zwischen Abenteuern Geld verdienen können. Die Regeln für den Lebensunterhalt, der währenddessen bezahlt werden muss, stehen dagegen in Kapitel 6: Equipment auf S. 294. Diese beiden Teil sind nicht miteinander über Seitenverweise verbunden, was für einige Verwirrung sorgen kann.
Ein anderes Problem ist, dass Pathfinder 2e ein recht großes Vokabular aus spezifischen Begriffen benutzt. Um manche Regelzusammenhänge zu begreifen, muss man zuerst die genaue Bedeutung dieser Begriffe verstehen. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob man jemanden mit einer magischen Fähigkeit oder mit einen Zauber versteinert. Dadurch entsteht eine große Lernhürde, die den Einstieg in das System erschwert. Allerdings springen hier ergebene Fans, wie zum Beispiel Youtuber Basics4Gamer ein. Er fasst in seinen Videos alle Fakten zu bestimmten Regeln übersichtlich und mit Beispielen zusammen.
Eher eine Geschmacksfrage als ein richtiges Problem ist das Fehlen eines Bestiariums oder eines Beispiel-Abenteuers. Zwar ist der erste Monsterband zu Pathfinder 2e gleichzeitig mit dem Core Rulebook erschienen und ähnlich massiv. Dadurch stellt er aber einen Pflichtkauf dar, um den die Spielleitung in spe nicht herumkommt. Beispiel-Abenteuer hingegen sind als Downloads auch durchaus kostenlos oder zum kleinen Preis im Internet zu finden. Dennoch ist es immer ein Pluspunkt, wenn sie in einem Grundregelwerk enthalten sind.
Abschließende Meinung zur zweiten Pathfinder-Edition
Die zweite Edition von Pathfinder hat mich bislang überzeugt. Ich glaube aber nicht, dass sie für jede Rollenspielerin und jeden Rollenspieler zu empfehlen ist. Das Spiel richtet sich an Regelfüchse und Liebhaber von Präzision. An diejenigen, für die es einen greifbaren Unterschied zwischen zwei Kriegern geben muss, auch über pures Rollenspiel hinaus und in konkrete Regeln gegossen.
Patfhinder 2e verlangt Zeit und Geld und hat eine große, aktive Gemeinde. Wer noch kein Rollenspiel angefangen hat und etwas Motivation mitbringt, kann in Pathfinder 2e sehr wahrscheinlich einen guten Einstieg in das System finden. Doch für diejenigen unter uns, deren Ressourcen schon anderweitig gebunden sind, dürfte Pathfinder 2e zu massiv sein. Wer das System trotzdem mal ausprobieren möchte, dem würde ich zu einem One-Shot oder einer Con-Runde raten. Vorgefertigte Charaktere für Level 1 und Level 5 sind auf Englisch kostenlos verfügbar.
Über praktische Erfahrung mit dem System und wie man damit eine Runde leiten kann, werde ich in der nächsten Woche schreiben. Bis dahin hoffe ich, dass mein Ersteindruck euch helfen konnte.
Pathfinder 2nd Edition
ab 14,99 $Pros
- Umfassendes Regelsystem, dessen Teile alle sauber ineinander greifen
- Klassensystem mit vielen Anpassungsmöglichkeiten
- Guter Support durch Verlag und Fangemeinde
Cons
- Aufteilung der Informationen ist nicht immer ideal
- Beispielabenteuer oder Gegner sind nicht enthalten
- Sehr wenige Informationen über das Setting Golarion